FONOFORUM

Aura einer Ära

Vermächtnis oder Konserve - die Münchner Hinterlassenschaften des Sergiu Celibidache

First Authorized Edition" - dieser Werbehinweis muss eigentlich jeden Musikfreund in höchste Kaufbereitschaft versetzen. Die langjährigen Verehrer vor Ort, die kaum eines seiner Konzerte versäumten, die fernen Bewunderer, die notfalls aus den USA oder aus Japan angereist kamen, um den Maestro endlich einmal live zu erleben, die weltweit zahllosen Neugierigen schließlich, die zwar vom Mythos Celibidache gehört hatten, aber nie Gelegenheit fanden, sich von dessen Realität zu überzeugen - sie alle werden sich angesprochen fühlen, werden versuchen, Erlebtes wieder aufzufrischen oder nachzuholen.

Die bange Frage muss natürlich lauten, ob sich solche Offenbarungserlebnisse konservieren lassen, wieviel von Celibidaches musikalischem Geist in einer 11-CD-Box mit Münchner Konzertmitschnitten erhalten und enthalten ist. Man muss nicht unbedingt Celibidaches radikale Abscheu vor dem Medium Schallplatte teilen, um selber mit Skepsis an die Kollektion heranzugehen. Sind diese CDs nur eine Dokumentation im Sinne einer akustischen Gedächtnisausstellung - oder vermitteln sie doch auch die musikalische Faszinationskraft des großen Rumänen? Ich muss gestehen, dass ich, nach Celibidache-Live-Erfahrungen über drei Jahrzehnte hinweg, zunächst durchaus meine Zweifel hegte, ob hier wirklich mehr geboten sei als ein musikalisches Polaroid-Photo.

Gehen wir bei der Beurteilung zunächst von den technischen Gegebenheiten aus. Die von EMI ausgewählten Aufnahmen sind teilweise Konzertmitschnitte für Übertragungen des Bayerischen Rundfunks, teilweise Aufnahmen für das Archiv der Münchner Philharmoniker. Es wäre also völlig verfehlt, einen jener auf klanglichen Hochglanz nachpolierten Pseudo-Live-Mitschnitte zu erwarten, bei denen aus mehreren Konzerten schließlich eine „Live-Ideal-Version" zusammengeschnitten wird. Der Remastering-Produzent Marcus Herzog verfolgt hier eine ganz klare Linie: Eine von üblicherweise vier Aufführungen wird ausgewählt, und zwar ausschließlich nach dem Kriterium der Übereinstimmung zwischen dem Orchester und dem Dirigenten. Nach Lage der Aufnahmebedingungen muss man akzeptieren, dass das dynamische Spektrum im Vergleich zu den Konzerteindrücken gelegentlich etwas in Richtung Mittelwerte tendiert, dass manches Pianissimo etwas zu kräftig, zu dick nachgezeichnet wirkt. Was jedoch in beträchtlichem Maße erlebbar wird, ist Celibidaches Ziel, einen „deutschen" Orchesterklang als Gegenpol zur internationalen Orchesterentindividualisierung und Standardisierung zu entwickeln. „Ich habe in Deutschland etwas bekommen, das ich weitergeben muss", meinte er einmal - und dachte dabei gewiss nicht nur an Vibrato, Bassgrundierung oder Bogenführung, sondern vor allem an die Kunst der Artikulation, des Aufeinanderhörens, Aufeinanderreagierens. Und gerade dieser Aspekt von Celibidaches Dirigierkunst scheint in dieser Edition erfahrbar, vor allem aber die ebenso organische wie architektonische Weise, nicht nur einzelne Sätze als sich entwickelnde Einheit zu begreifen, sondern den gesamten Komplex einer Sinfonie wie von einer höheren Warte zu sehen. Es geht gar nicht mehr so sehr um einen Individualstil, der zwischen Mozart, Beethoven oder Tschaikowsky durch persönliche Nuancen unterscheidet - für Celibidache „ereignet" sich Musik, unabhängig von Kompositionszeit und -Stil auf einer Ebene jenseits individueller Interpretationsmarotten. Ihm als Analytiker und Sensualist in Personalunion geht es in der „Fünften" von Beethoven und der „Fünften“ von Tschaikowsky eigentlich um das gleiche Problem: um die perfekte Durchdringung der Strukturen und die ebenso perfekte Reorganisation der Form.

Ein Problem für die Wiedergabe sind jedoch Celibidaches überwiegend sehr langsamen Tempi. In den Konzerten hatten sie durchaus ihren Sinn (auch wenn sie heftig umstritten waren). Sie dienten der Verdeutlichung eines komplexen Verhältnisses zwischen Harmonik und Melodik, zwischen „vertikalem" und „horizontalem Druck". Aber diese Tempi waren nicht nur abgeleitet aus abstrakten Vorschriften der Partitur, sondern vor allem auch den Bedingungen der Saal-Akustik. Und hier BARTOK: Konzert für Orchester (Konzert und Probenmitschnitt) (AD: März 1995), EMI CD 5 56528 2 (WD: 77'46") DDD (Nur als Bonus-CD zur Celibidache Box erhältlich) wird man bei der Reduktion auf Mitschnitte gelegentlich Probleme bekommen: Was im Großraum der Münchner Philharmonie nach erfüllter Getragenheit klang, wirkt auf CD teilweise stark überdehnt und unmotiviert. Ein Punkt, an dem die Aufnahmen zwar physikalisch exakte Werte übermitteln, nicht jedoch die authentische Wirkung.

Was nun erwartet den Hörer ganz konkret? Für Celibidache-Neulinge, die sich wohl ohnedies für die komplette Box entscheiden werden, empfiehlt sich als Einstieg die nicht einzeln erhältliche Bonus- CD mit Bartoks Konzert für Orchester (Probenmitschnitt und Konzert). Was hier demonstriert wird, ist der Prozess der peniblen, gewissermaßen geheimnislosen Ausleuchtung einer Partitur bis in ihre letzten Winkel. Celibidache duldet nichts Vages - wenn bei ihm ein Misterioso-Effekt entsteht, wenn Klangflair hergestellt wird, dann auf der Grundlage höchster Bewusstheit. Um diesen Vorgang noch genauer zu verstehen, sollte man die Debussy-Beispiele heranziehen - Celibidache, im Bedarfsfall ein gefürchtet strenger Orchestererzieher, hatte seine Münchner Musiker von Anfang an daraufhin gedrillt, die eigene Instrumentalstimme bewusster als zuvor im Klangkontext des gesamten Ensembles zu hören. Auch hier findet man also keine nebulöse Klangmagie, sondern eine luzide Durchdringung komplexer Schichtungen und diffiziler rhythmischer Elemente. Diese Formulierung klingt vielleicht ein wenig nüchtern, als ginge es um den mittleren Pierre Boulez; doch in welchem Maß eine solche - im Grunde ja äußerst strenge - Haltung durch konsequente Intensivierung zur lustvollen Ekstase getrieben werden kann, zeigt sich spätestens bei Ravels Bolero, den Celibidache im Lauf der Jahre immer puristischer anlegte und dabei immer mehr zum Wesenskern dieses exzentrischen Stückes vordrang.

Nicht ganz so einfach scheint mir die Bewertung der russischen Sektion. Celibidache bietet mit der fünften und sechsten Symphonie von Tschaikowsky slawisches Schwergewicht, düster und ernst getönt, frei von jeglichem Larmoyanzverdacht. Was mir ein wenig fehlt, ist der Aspekt flirrender Nervenkunst, wie man sie an guten Abenden bei den St. Petersburger Philharmonikern unter Temirkanov erlebt, oder die schmerzhafte Aggressivität, wie sie seit einigen Jahren in der „Sechsten" von Claudio Abbado vorgeführt wird. Am besten begreift man den slawischen Stil des Sergiu Celibidache wohl bei Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung": Charakterbilder jenseits aller Genrehaftigkeit werden da aufgebaut, monumentale Skizzen, in denen selbst der stolpernde Gnomus seine Würde behält und dem bettelnden Juden eine tragische Dimension erwächst. In der Gruppe Mozart-Haydn-Beethoven-Schubert kann man vor allem Celibidaches extremes Streben nach formaler Schlüssigkeit studieren. Hier geriert er sich als Nachschöpfer eines jeweiligen musikalischen Kosmos, entwickelt Klang-Architekturen, lässt Organismen wachsen, zeichnet Motivmetamorphosen nach. Was diesen Lehrstücken kluger Partituranalyse indes teilweise abgeht, ist das Element der Dramatik.

Ein letzter Blick auf das romantische Repertoire. Hier wird man neben intensiver Schumann-Exegese die eigentliche Überraschung der Kollektion finden: Celibidache, der notorische Opernverächter, dirigiert Wagner. Und zeigt dabei den Pragmatikern des Opernalltags, wie schlampig sie mit Wagner oft verfahren. Celibidache wagt Tempi, die jedem anderen die Spannung unter dem Taktstock zerbröckeln ließen - doch er hält diese Spannung. Er baut einen Mischklang auf, der die Homogenität der Bayreuther Festspielhaus-Akustik mit der Klarheit seines analytischen Denkens zu verbinden scheint. Und er inszeniert die Trauermusik aus der „Götterdämmerung" mit einer derart archaischerschütternden Größe, dass man danach nur noch eine längere Hörpause einlegen kann. Die Aura der Ära Celibidache - hier wird sie selbst in der Tonkonserve Ereignis.

Klaus Bennert FonoForum 12/1997

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